Albrecht

Gralle

Kurztexte

 

Auch ich war einst ein Kind,

mit aufgeschlag'nen Knien

und treuem Kinderblick.

 

Ich mochte keine Zwiebeln, hasste rote Beete

Und manchmal gab ich Tante Käthe

nicht die Hand.

Ich kannte grüne Drachen, Zwerge,

bohrte in der Nase,

trank heimlich Wasser

aus der Blumenvase

und sah gelegentlich ganz niedlich aus.

 

Auch ich war einst ein Kind,

ich war Indianer, malte Muster auf die Haut,

schrieb heimliche Gebete auf

und Gott hab ich mir vorgestellt

als Astronaut.

 

Die Mädchen lebten hinter buntem Glas

In einer andern Welt.

Ich sah sie meist von ferne.

Sie waren Zauberwesen

und konnten Zaubersprüche lesen.

Ihr Lachen klang nach Glockenspiel und Brause. 

Und unter ihren Röcken

war ein großer Schatz versteckt,

den haben sie stets zugedeckt.

 

Jetzt bin ich schon erwachsen.

Ich esse Zwiebeln

und bohr nur heimlich in der Nase,

Das Wasser in der Blumenvase

überlass ich gern den Blumen.

 

Ich gebe viel zu vielen Leuten nun die Hand.

Zu Gott bete ich immer noch

und stell mir vor, er wär mein Freund.

 

Die Frauen leben nicht mehr hinter Glas,

anscheinend sind sie ganz normale Leute,

sie träumen, arbeiten, feiern,

sind hässlich oder schön

erschaffen Wunder

oder produzieren Mist bis heute.

 

Und trotzdem sind sie wie aus einer andern Welt

und machen Sachen, die ich nie erwarte,

sie weinen, wenn sie reden sollten

und lachen, wenn ich weinen könnte,

sie reden, wenn ich Schweigen brauche.

Und bleiben stumm, wenn Worte wichtig sind.

Und ihr Geheimnis tragen sie nicht unter ihren Röcken.

Ich habe nachgeschaut. Es muss woanders liegen.

Ich kann’s nur nicht entdecken!

 

 

Neulich wurde bei uns

am Nachmittag, so gegen drei,

eine alte Frau geschlagen,

von einem Kind.

Einfach so.

Ohne Grund.

Die beiden kannten sich nicht.

 

Weiterlesen: Nur zehn Minuten

Die Mauer ist hoch und nur zwei Handflächen breit. Ich stehe oben und weiß nicht, wie ich da hinaufgekommen bin. Vorsichtig balanciere ich und bewege mich nach vorne. Rechts und links geht es abgründig hinab. Zu tief, um irgendetwas zu erkennen. Die Menschen bewegen sich wie bunte Punkte unter mir.Warum habe ich keine Angst? Ich gehe weiter, summe eine Melodie und weiß plötzlich, dass ich nicht fallen werde, wenn ich fallen würde. Also stoße ich mich ab, falle tatsächlich nicht, sondern schwebe neben der Mauer her. Laufe ein Stück auf ihr entlang, verlasse sie wieder, gehe an ihr steil bergauf. Was als Gefahr aussah, ist ein Spiel geworden. So sehr ich mich auch anstrenge, ich falle einfach nicht. Ich bin zu leicht, wie mit Watte und Luft ausgestopft.

Weiterlesen: Balanceakt